Herbert von von Einem, Carl Ludwig Fernow. Eine Studie zum deutschen Klassizismus
(1937)
Schlagworte: Sprachwissenschaft, Wissenschaftstheorie, Existenzphilosophie, Sprachphilosophie, Biographie
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Bollnow kennenlernen
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Die Anfänge

Otto Friedrich Bollnow wird 1903 in Stettin, dem heutigen Szczecin (Polen) geboren. Vater und Großvater sind Volksschullehrer. Der junge Bollnow besucht das humanistische Gymnasium in Anklam (Vorpommern). Als Student geht er zunächst nach Berlin, dann nach Greifswald und Göttingen. Sein wissenschaftlicher Werdegang führt über die theoretische Physik und Mathematik schließlich zur Philosophie und Pädagogik.
Von der Physik zur Philosophie

1925 wird Bollnow beim Göttinger Atomphysiker Max Born promoviert. Er hört den Dilthey-Schüler Herman Nohl, den Lebensphilosophen Georg Misch und den Logiker Josef König („Göttinger Kreis“). Bollnow nimmt regen Anteil an Jugendbewegung und Reformpädagogik und arbeitet mit Paul Geheeb und Martin Wagenschein in Oberhambach. Nach dem Erscheinen von Martin Heideggers „Sein und Zeit“ schreibt sich Bollnow in Freiburg ein. Er wirkt mit an der Davoser Konferenz (1929) und habilitiert sich schließlich bei Misch zur „Lebensphilosophie F. H. Jacobis“ (1931).
Der Privatdozent in Göttingen

Als Privatdozent liest Bollnow u.a. zu Brentano, Kant, Kierkegaard und Schelling. Auf Veranlassung Mischs (Abb.) und Nohls gibt Bollnow die pädagogischen Schriften Wilhelm Diltheys heraus und schreibt eine lange maßgebliche Einführung in Diltheys Philosophie. Wie seine Lehrer spricht sich Bollnow 1933 zunächst für eine „nationalpädagogische“ Lesart der geisteswissenschaftlichen Tradition aus. Bollnow unterstützt im gleichen Jahr auch das Bekenntnis der Professoren zum Nationalsozialismus (gemeinsam mit Heidegger, Gadamer, Ritter u.a.). Die Partei hält Bollnows „unpolitische“, „relativistische“ Einstellung indes für ungeeignet. Seine Lehrstuhlvertretungen und Professuren in Göttingen, Gießen und Kiel haben keinen Bestand. Bollnow wird spät Parteimitglied (1940) und schließlich als Soldat einberufen. Wo immer möglich, führt er seine Studien zur Hermeneutik auch in den Kriegsjahren fort.
Neuanfang in Mainz

1946 erhält Bollnow eine ordentliche Professur in Mainz. Seine in den Kriegsjahren begonnenen Arbeiten, seine Kritik der Existenzphilosophie und Fundamentalontologie Heideggers („Das Wesen der Stimmungen“, 1941) und seine Beiträge zum französischen Existenzialismus (Albert Camus, Jean-Paul Sartre) werden einem breiten Publikum zugänglich. Bollnow wird zum Mitbegründer wichtiger Zeitschriften der Philosophie („Zeitschrift für philosophische Forschung“, mit Gregori Schischkoff, Werner Jaeger, Bertrand Russell, Wilhelm Weischedel) und Pädagogik („Die Sammlung“, mit Herman Nohl, Erich Weniger und Wilhelm Flitner). Bollnows Schriften finden international Beachtung.
Die Spranger-Nachfolge

Mit den Fünfziger Jahren gehört Bollnow zu den ersten Namen der Philosophie. Er nimmt einen Ruf auf den Lehrstuhl für Philosophie und Pädagogik in Tübingen an, wo er 1953 die Nachfolge Eduard Sprangers (Abb.) antritt. Bollnows „Überwindung des Existenzialismus“ mit dem Titel „Neue Geborgenheit“ (1955) erscheint und wird zu einem Schlüsselwerk der Nachkriegsphilosophie in Deutschland. In Tübingen entfaltet Bollnow zugleich große pädagogische Wirkung. Er legt seine pädagogischen Hauptschriften über die „unstetigen Formen der Erziehung“ (1959) und über die „pädagogische Atmosphäre“ (1964) vor.
Tübingen als Zentrum hermeneutischer Philosophie

Tübingen wird nach Bonn (“Rothacker-Schule“) und Heidelberg („Gadamer-Schule“) zu einem Mittelpunkt hermeutischen Philosophierens. Rufe an andere Universitäten schlägt Bollnow aus. In den späten Sechziger und Siebziger Jahren mehren sich Einsprüche aus den Reihen der Frankfurter Kritischen Theorie und der „realistischen“, kritisch-rationalistischen Erziehungswissenschaft gegen die „geisteswissenschaftliche“ Tradition. Bollnow führt dies zu einer Besinnung auf die Unverzichtbarkeit des hermeneutischen Einsatzes in Philosophie und Wissenschaft („Prinzip der offenen Frage“). In Asien und Südamerika, aber auch in der Philosophie und Pädagogik des europäischen Auslands wird Bollnow weiter nachhaltig rezipiert, so etwa in Finnland, Frankreich und Griechenland.
Der Bollnow-Kreis

Bollnow ist Gründungsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE); ihm folgen u.a. Hans Scheuerl, Hans Thiersch, Wolfgang Klafki und Dietrich Benner. Mit der Arbeit über „Mensch und Raum“ (zuerst 1963) wird Bollnow über die Fachgrenzen hinaus bekannt und zum frühen Vorläufer des spatial turn in den Sozialwissenschaften. Am Lehrstuhl Bollnows entstehen wichtige Arbeiten zur philosophischen und pädagogischen Anthropologie, zur Geschichts- und Kunstwissenschaft, zu Phänomenologie, Pragmatismus und Hermeneutik. Ein „Bollnow-Kreis“ bildet sich, in welchem die Kollegen und Mitarbeiter Bollnows je eigene philosophische und pädagogische Fragestellungen verfolgen.
Außergewöhnliche internationale Wirkung

Bollnows Tübinger Hörerschaft kommt schließlich aus aller Welt. Seine Texte werden in zahlreiche Sprachen übersetzt, pädagogische Schriften ebenso wie seine Mainzer Studien und die zweibändige „Philosophie der Erkenntnis“ (1970, 1975). Zugleich entwickelt Bollnow eine rege Vortragstätigkeit, die auch nach seiner Emeritierung im Jahr 1970 anhält. Schüler und Kollegen Bollnows begründen eine eigene „Bollnow-Schule“ im japanischen Kyoto. Bollnow wird u.a. Ehrendoktor der Université de Strasbourg und der Tamagawa Daigaku in Tokyo. Die letzten Vortragsreisen führen ihn im Alter von über 80 Jahren nochmals nach Korea (Seoul 1984) und Japan (Osaka 1986).
Letzte Lebensjahre und Vermächtnis

Im hohen Alter wendet sich Bollnow erneut der Begründung einer „Hermeneutischen Philosophie“ und der Auseinandersetzung mit seinem Göttinger Mentor Misch zu. Seine Spätphilosophie stellt er im „Tübinger philosophischen Kolloquium“ zur Diskussion. Das Kolloquium das wissenschaftliche Gespräch nach Bollnows Tod 1991 am Philosophischen Seminar der Universität fort. Auf zwei Bollnow-Tagungen wird der Wunsch nach einer regelmäßigen Diskussion von Bollnows philosophischem und pädagogischen Werk artikuliert, nach der Vorbereitung einer Studien- und Werkausgabe Bollnows, und nach der Entfaltung von Bollnows Spätphilosophie. 2004 wird dazu die Otto Friedrich Bollnow-Gesellschaft gegründet, deren Vorsitzender und treibende Kraft der Bollnow-Schüler Friedrich Kümmel wird.